Wir Menschen des des 21. Jahrhunderts mögen keine Wege. Wir eliminieren sie, wo wir können. Wege erscheinen uns wie Wartezeiten, verschwendete Zeit, Stagnation. Wir jubeln, wenn der ICE von München nach Berlin nur noch vier Stunden braucht. Wir stöhnen über den Fußweg zum Briefkasten. Statt Briefen schreiben wir Mails und die Postunternehmen überleben das Sterben der Briefpost nur, weil wir so viel online einkaufen.
Zur Videothek gehen wir nicht mehr. Um Geld zu sparen, brachte ich früher die entliehene DVD noch am selben Abend zurück, auch wenn es bereits nach Mitternacht war, ich genoss die erfrischende Nachtluft. Der Weg zur Videothek half mir, den Film zu verarbeiten. Heute streamen wir und bezahlen lieber das Dreifache, um den Fußweg einzusparen.
Den Weg zum Restaurant scheuen wir und bestellen lieber den Lieferservice zu uns nach Hause – was im Grunde bloß heißt, dass jemand anderes den Weg macht.
Statt in eine Buchhandlung zu gehen, bekommen wir unsere Bücher in anonymen Päckchen. Auch hier macht jemand anderes den Weg, und obwohl der Onlinehändler das Porto übernimmt, bezahlen wir für den Komfort mit toten, leeren Innenstädten, weil die Buchhandlungen und viele andere Läden schließen. Wir bezahlen damit, dass wir nicht mehr stöbern gehen können. Stöbern, sagt man das überhaupt noch?
Bei Büchern bin ich konsequent, die kaufe ich nur in der Buchhandlung. Ich mag es, ein Buch von einem Menschen zu kaufen. Aber ich falle dafür bei anderen Themen um. Gerade wollte ich in München Schuhe kaufen, die das Kaufhaus jedoch in meiner Größe nicht vorrätig hatte. Ein weiteres Geschäft hatte meine gewohnte Marke nicht, und noch länger zu suchen erschien mir zu aufwendig und zeitraubend. Ich weiß genau, wo es den Schuh online gibt ...
Nicht mal den Weg vom Sofa zum Fernseher wollen wir machen. Ich kann mich gut erinnern, wie wir den ersten Fernseher mit Fernbedienung bekamen. Ich war Teenager. Fasziniert hielt ich das kleine Funkkästchen in der Hand. Es erschien mir dekadent, damit die zwei Schritte zum Fernseher zu sparen.
Heute wäre es mir unvorstellbar, zum Umschalten einen Knopf am Fernseher drücken zu müssen.
Ich sitze auf dem Sofa und fluche, wenn die Fernbedienung wieder mal spinnt. Würde ich einen Fernseher überhaupt ertragen, der nach dem Anschalten eine Weile zum Aufwärmen braucht und dann zuerst nur den Ton wiedergibt, bis allmählich auch das Bild erscheint? Den leuchtenden Punkt auf der Mattscheibe, wenn man den Apparat ausschaltete, werde ich nie vergessen.
Immer sind wir in Eile und zu spät dran. Verwirrte kleine Kreaturen, die versuchen, durch Hast auszugleichen, was ihnen an Zielgerichtetheit und Ruhe fehlt.
Da scheint das Spazierengehen anachronistisch zu sein. Es bringt uns nicht weiter. Es erwirtschaftet kein Geld, steigert nicht unseren Marktwert, es passt nicht in unsere Ranking-Sucht. Wir veranstalten einen Modelwettbewerb, um zu wissen, wer die beste Brust hat, die besten Augen, das beste Haar, Fernsehsendungen drehen sich darum: Wer kann besser kochen? Besser singen? Besser einkaufen? Wir sind Spezialisten darin, uns zu vergleichen.
Aber man kann nicht besser spazieren gehen.
Darin kann man niemanden schlagen, weil es keine Leistung gibt beim Spazierengehen. Nur Freiheit. Das ist genau das, was wir heute brauchen.
Das Spazierengehen fällt aus der Zeit: Hier machen wir freiwillig einen Weg.
Ray Bradbury, der berühmte Science-Fiction-Autor, ging von einer Zukunft aus, in der niemand mehr spazieren geht. In seiner Geschichte »Der Fußgänger« wird ein einsamer Spaziergänger im Jahr 2052 von einer Polizeistreife angehalten, einem leeren, automatischen Polizeiwagen, und eine blecherne Stimme fragt ihn: »Was tun Sie hier draußen?«
Als er erklärt, er gehe spazieren, fragt die Roboter-Streife verwirrt nach: »Spazieren. Nur spazieren. Spazieren?«
»Ja, Sir.«
»Wohin gehen Sie? Wozu?«
»Ich gehe nur an die Luft. Ich gehe, um etwas zu sehen.«
»Sie haben mir noch nicht erklärt, warum.«
»Doch. Wegen der Luft und einfach, um spazieren zu gehen.«
Das leuchtet der Polizei nicht ein, und der Spaziergänger wird abtransportiert zum »Psychiatric Center for Research on Regressive Tendencies«.
Auszug aus: Titus Müller: »Einfach mal spazieren gehen«, (c) Arche Literatur Verlag 2019.