Titus Müller

Vom Versuch, ein Hörbuch aufzunehmen

Zuerst war ich verblüfft, wie sehr mein Arbeitszimmer hallt, wenn ich mit dem Mikro Aufnahmen mache. Erst mit einer Decke über dem Kopf und halb in den geöffneten Kleiderschrank hineingekrochen, klang es gut. Allerdings wurde mir schon nach zwei Minuten sehr warm unter der Decke. Undenkbar, ein ganzes Hörbuch so einzulesen.

Also musste Dämmmaterial her. Dort, wo ich das gute, teure Mikro gekauft hatte, gab es auch die Dämmung. Es konnte losgehen!

Wir wohnen in einer ruhigen Seitenstraße, man hört fast nie etwas. Aber als ich nachmittags mit den Aufnahmen loslegte, war alle paar Minuten ein Hundebellen zu hören, in der Ferne fuhr eine Feuerwehr, eine Autotür schlug zu. All diese Geräusche blende ich im Alltag aus. Für ein Hörbuch sind sie undenkbar, und dieses verflixt empfindliche Mikrofon nahm alles auf. Ich musste warten, bis es Nacht war.

Am Ende wurden es mehrere Nächte. Wünscht ihr euch jemanden, der euch eine Weihnachtsgeschichte vorliest? Ich komme gern zu euch, oder sagen wir: eine Aufnahme von mir. Gerade ist bei Audible »Tanz mit mir, Aurelia« als Hörbuch erschienen.

23. Dezember 2019

Apartheid

Letzte Woche haben Lena und ich über die Apartheid in Südafrika gesprochen. Mir war nicht bewusst, dass Jona (5) zuhörte. Heute sagt er plötzlich, er wolle mit mir nach Südafrika fahren, wegen der Schwarzen und Weißen und was ich da mit Mama geredet hätte. Ich versuche, es ihm zu erklären. Da meldet sich Felix (4) zu Wort: »Wir sind die Schwarzen, ge?« Er strahlt mich an. »Nein, Felix. Wir sind die Weißen.« Er verstummt. Es arbeitet in ihm. Dann fragt er leise, mit Entsetzen: »Also sind wir die Bösen?« Ich glaube, ich muss in Zukunft besser aufpassen, was ich mit Lena in Hörweite der Kinder so rede. Heute habe ich noch mühsam die Kurve gekriegt und Felix weisgemacht, dass das vorbei und länger her ist ... Andererseits, es sind Realitäten auf unserem Planeten, und selbst wo sie »überwunden« sind, haben sie noch Folgen bis heute. Ich will die Jungs nicht überfordern, aber ihnen auch keine Welt vorgaukeln, die nicht existiert. Eine Gratwanderung. Immerhin sind es dieselben Kinder, die heute früh auf dem Weg zum Kindergarten darüber diskutiert haben, ob es den Nikolaus gibt oder nicht. Felix: »Ist der unsichtbar oder was?« Jona: »Doch, den gibt es, den haben wir doch einmal im Kindergarten gesehen, weißt du nicht mehr?« Wie können Kinder im einen Moment schon so groß sein und im anderen noch so klein? Na, ich gönne es ihnen.

26. Juni 2019

Dramatische Filmaufnahmen

Starke Filmaufnahmen vom 17. Juni 1953. (Heute vor 66 Jahren fand der Aufstand statt.) Der Tagesschau-Sprecher spricht allerdings etwas zu dramatisch – da wird mir bewusst, wie sehr ich mich daran gewöhnt habe, dass selbst die aufwühlendsten Nachrichten in der Tagesschau mit unbewegter Haltung aufgesagt werden.

Ich lese heute aus meinem Roman zum Aufstand in der Stadtbibliothek in Meiningen/Thüringen. Aber da ich kein Tagesschau-Sprecher bin, darf ich dramatisch klingen.

17. Juni 2019

Spazieren. Nur spazieren. Spazieren?

Wir Menschen des des 21. Jahrhunderts mögen keine Wege. Wir eliminieren sie, wo wir können. Wege erscheinen uns wie Wartezeiten, verschwendete Zeit, Stagnation. Wir jubeln, wenn der ICE von München nach Berlin nur noch vier Stunden braucht. Wir stöhnen über den Fußweg zum Briefkasten. Statt Briefen schreiben wir Mails und die Postunternehmen überleben das Sterben der Briefpost nur, weil wir so viel online einkaufen.

Zur Videothek gehen wir nicht mehr. Um Geld zu sparen, brachte ich früher die entliehene DVD noch am selben Abend zurück, auch wenn es bereits nach Mitternacht war, ich genoss die erfrischende Nachtluft. Der Weg zur Videothek half mir, den Film zu verarbeiten. Heute streamen wir und bezahlen lieber das Dreifache, um den Fußweg einzusparen. Den Weg zum Restaurant scheuen wir und bestellen lieber den Lieferservice zu uns nach Hause – was im Grunde bloß heißt, dass jemand anderes den Weg macht.

Statt in eine Buchhandlung zu gehen, bekommen wir unsere Bücher in anonymen Päckchen. Auch hier macht jemand anderes den Weg, und obwohl der Onlinehändler das Porto übernimmt, bezahlen wir für den Komfort mit toten, leeren Innenstädten, weil die Buchhandlungen und viele andere Läden schließen. Wir bezahlen damit, dass wir nicht mehr stöbern gehen können. Stöbern, sagt man das überhaupt noch?

Bei Büchern bin ich konsequent, die kaufe ich nur in der Buchhandlung. Ich mag es, ein Buch von einem Menschen zu kaufen. Aber ich falle dafür bei anderen Themen um. Gerade wollte ich in München Schuhe kaufen, die das Kaufhaus jedoch in meiner Größe nicht vorrätig hatte. Ein weiteres Geschäft hatte meine gewohnte Marke nicht, und noch länger zu suchen erschien mir zu aufwendig und zeitraubend. Ich weiß genau, wo es den Schuh online gibt ...

Nicht mal den Weg vom Sofa zum Fernseher wollen wir machen. Ich kann mich gut erinnern, wie wir den ersten Fernseher mit Fernbedienung bekamen. Ich war Teenager. Fasziniert hielt ich das kleine Funkkästchen in der Hand. Es erschien mir dekadent, damit die zwei Schritte zum Fernseher zu sparen.

Heute wäre es mir unvorstellbar, zum Umschalten einen Knopf am Fernseher drücken zu müssen. Ich sitze auf dem Sofa und fluche, wenn die Fernbedienung wieder mal spinnt. Würde ich einen Fernseher überhaupt ertragen, der nach dem Anschalten eine Weile zum Aufwärmen braucht und dann zuerst nur den Ton wiedergibt, bis allmählich auch das Bild erscheint? Den leuchtenden Punkt auf der Mattscheibe, wenn man den Apparat ausschaltete, werde ich nie vergessen.

Immer sind wir in Eile und zu spät dran. Verwirrte kleine Kreaturen, die versuchen, durch Hast auszugleichen, was ihnen an Zielgerichtetheit und Ruhe fehlt.

Da scheint das Spazierengehen anachronistisch zu sein. Es bringt uns nicht weiter. Es erwirtschaftet kein Geld, steigert nicht unseren Marktwert, es passt nicht in unsere Ranking-Sucht. Wir veranstalten einen Modelwettbewerb, um zu wissen, wer die beste Brust hat, die besten Augen, das beste Haar, Fernsehsendungen drehen sich darum: Wer kann besser kochen? Besser singen? Besser einkaufen? Wir sind Spezialisten darin, uns zu vergleichen.

Aber man kann nicht besser spazieren gehen. Darin kann man niemanden schlagen, weil es keine Leistung gibt beim Spazierengehen. Nur Freiheit. Das ist genau das, was wir heute brauchen. Das Spazierengehen fällt aus der Zeit: Hier machen wir freiwillig einen Weg.

Ray Bradbury, der berühmte Science-Fiction-Autor, ging von einer Zukunft aus, in der niemand mehr spazieren geht. In seiner Geschichte »Der Fußgänger« wird ein einsamer Spaziergänger im Jahr 2052 von einer Polizeistreife angehalten, einem leeren, automatischen Polizeiwagen, und eine blecherne Stimme fragt ihn: »Was tun Sie hier draußen?« Als er erklärt, er gehe spazieren, fragt die Roboter-Streife verwirrt nach: »Spazieren. Nur spazieren. Spazieren?« »Ja, Sir.« »Wohin gehen Sie? Wozu?« »Ich gehe nur an die Luft. Ich gehe, um etwas zu sehen.« »Sie haben mir noch nicht erklärt, warum.« »Doch. Wegen der Luft und einfach, um spazieren zu gehen.« Das leuchtet der Polizei nicht ein, und der Spaziergänger wird abtransportiert zum »Psychiatric Center for Research on Regressive Tendencies«. Auszug aus: Titus Müller: »Einfach mal spazieren gehen«, (c) Arche Literatur Verlag 2019. Das Bild stammt von Radosław Cieśla, gefunden auf Pixabay.

4. April 2019

Ein Hoch auf die Lektoren

Ich war 23, als mein erster Roman lektoriert wurde. Die Genauigkeit und Leidenschaft, mit der mein damaliger Lektor Gunnar Cynybulk sich der Geschichte widmete, hat mich umgehauen. Ich habe von seinem Können enorm profitiert und seine Hilfestellungen aufgesogen wie ein Schwamm. Zwei Beispielseiten von damals zeige ich hier, ihr versteht sicher sofort, was das für mich bedeutet hat. Es sind Anfängerfehler, die ich damals gemacht habe – und er war sich nicht zu fein, mir das Handwerk beizubringen.

Heute heißen meine Lektoren Dr. Edgar Bracht (Blessing), Nicole Schol (Adeo) und Dr. Angelika Künne (Arche), und ich lerne von ihnen bei jedem Buch weitere sprachliche Kniffe, feine Geschichtenerzählertricks und einen liebevollen neuen Blick auf die Figuren und die Hintergründe des jeweiligen Buchs. Zeit, es mal laut zu sagen: ein Hoch auf alle Lektorinnen und Lektoren! Ihr arbeitet im Verborgenen, aber ihr seid die eigentlichen Zauberkünstler, ohne die es niemals gute Bücher geben würde. Edgar Bracht könnt ihr übrigens kennenlernen. Falls ihr selbst auch schreibt und seinen klugen Blick auf euer Romanprojekt wünscht, vom 4.-5. Mai gibt es in München eine Romanwerkstatt von ihm und mir gemeinsam, veranstaltet von der Text-Manufaktur. Ihr seid herzlich willkommen!

12. Februar 2019